Hausarztmedizin: Schwindel – Diagnostik, Therapie und Management
Interessengebiete: Allgemeinmedizin und Innere Medizin, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Neurologie, Geriatrie
Fortbildungsinhalte und Lernziele
Schwindel ist ein multifaktorielles Symptom, das eine gründliche Evaluation und ein umfassendes Verständnis seiner Pathophysiologie erfordert. Korrekte Diagnose und Behandlung können die Lebensqualität der Betroffenen erheblich verbessern und das Risiko von Komplikationen verringern. Die Behandlung von Schwindel erfordert oft einen multidisziplinären Ansatz, der medikamentöse Therapie, Physiotherapie sowie Beratung und Lebensstiländerungen umfassen kann. Die Wahl der Therapie hängt von der spezifischen Ursache des Schwindels ab.
Kursinhalt
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Schwindel ist wie Schmerz ein Leitsymptom und keine eigenständige Erkrankung. Die klinische Relevanz ergibt sich aus seiner hohen Prävalenz und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Lebensqualität. Schwindel kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der täglichen Aktivitäten führen und ist ein Risikofaktor für Stürze, insbesondere bei älteren Menschen [1]. Darüber hinaus ist Schwindel mit einer erhöhten Inzidenz von Angstzuständen und Depressionen verbunden [2].
Schwindel beschreibt ein breites Spektrum von Beschwerden, das von wenig konkreten Gefühlen wie Benommenheit, Unwohlsein oder Gangunsicherheit bis zu einem klar beschriebenen Dreh- oder Schwankschwindel reicht. Diese Illusion einer Bewegung, entweder der eigenen Person oder der Umgebung, ist oft mit einer Beeinträchtigung des Gleichgewichts verbunden. Gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) wird Schwindel als Unsicherheit im Raum definiert, als erlebter Verlust sicherer räumlicher Orientierung [3].
Epidemiologie
Es wird geschätzt, dass etwa 20–30 % der Bevölkerung mindestens einmal im Leben von Schwindel betroffen sind [4]. Schwindel zählt zu den 20 häufigsten Behandlungsanlässen in deutschen Hausarztpraxen [5] und ist bei Patienten ab 75 Jahren das häufigste Leitsymptom. Die Prävalenz ist bei Frauen zwei- bis dreifach höher als bei Männern [6].
Schwindel betrifft grundsätzlich alle Altersgruppen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Nach Schätzungen konsultieren 50 % der > 80-Jährigen, 30 % der 70- bis 80-Jährigen und 20 % der 60- bis 70-Jährigen im Laufe eines Jahres einen Arzt als Folge dieses Symptoms [7]. Schwindel gehört mit 5 % aller Kontakte auch zu den häufigsten Leitsymptomen in der Notaufnahme. In den meisten Fällen liegt jedoch eine benigne Ursache zugrunde, bei ca. 25 % der Patienten aber eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung (Abb. 1) [8].
Eine große europäische epidemiologische Studie mit rund 70.000 Personen im Alter über 50 Jahren identifizierte verschiedene Risikofaktoren für das Auftreten von Schwindel: Leben in der Stadt, weibliches Geschlecht, alleinlebend, hohes Lebensalter, geringe Bildung, Komorbiditäten, depressive Symptome, sensorische Defizite und Mangel an körperlicher Aktivität [9].
Pathophysiologie
Die Pathophysiologie des Schwindels ist komplex und umfasst verschiedene sensorische Systeme, die für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und der räumlichen Orientierung verantwortlich sind. Diese Systeme beinhalten das vestibuläre System, das visuelle System und das somatosensorische System. Eine Störung in einem dieser Systeme oder in ihrer zentralen Integration kann zu Schwindel führen [10]. Bei Schwindel wird zwischen peripher-vestibulärem, zentral-vestibulärem und nicht-vestibulärem Schwindel unterschieden. Diese Einteilung beruht auf dem Ort des Krankheitsprozesses. Bei allen Schwindelformen ist zu beachten, dass meist eine ausgeprägte Interaktion zwischen Körper und Psyche stattfindet. So bleibt nach Ausheilung eines organisch bedingten Schwindels nicht selten eine psychisch bedingte Unsicherheit mit Schwindelgefühlen zurück [24]. Man spricht auch vom Teufelskreis des Schwindels (Abb. 2).
Neuroanatomische Grundlagen des Gleichgewichtssinns
Das vestibuläre System, das für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und die räumliche Orientierung verantwortlich ist, besteht aus dem peripheren vestibulären Organ im Innenohr und den zentralen Verarbeitungszentren im Gehirn. Das periphere vestibuläre Organ umfasst die drei Bogengänge, die lineare und rotatorische Bewegungen des Kopfes detektieren, sowie die Otolithenorgane (Utrikulus und Sakkulus), die auf lineare Beschleunigungen reagieren [10]. Die Informationen aus diesen Sensoren werden über den N. vestibularis zum Hirnstamm und Kleinhirn geleitet, wo eine weitere Verarbeitung und Integration mit visuellen und somatosensorischen Informationen stattfindet [12].
Pathophysiologische Mechanismen, die zu Schwindel führen
Schwindel kann durch eine Vielzahl von Störungen im vestibulären System verursacht werden. Zu den häufigen Ursachen gehören Entzündungen, Traumata, Durchblutungsstörungen und degenerative Veränderungen. Diese Störungen können zu einer asymmetrischen Signalverarbeitung zwischen dem rechten und linken vestibulären System führen, was eine zentrale Rolle in der Entstehung von Schwindelgefühlen spielt. Zudem können auch zentrale Störungen im Gehirn, wie Schlaganfälle oder multiple Sklerose, zu Schwindel führen, indem sie die Verarbeitung und Integration der vestibulären Informationen beeinträchtigen [13].
Unterschiede in der Pathophysiologie von peripherem und zentralem Schwindel
Peripherer Schwindel entsteht durch eine Dysfunktion im Innenohr oder im N. vestibularis. Typische Beispiele sind der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS), die Neuritis vestibularis und der Morbus Menière (s. u.). Diese Erkrankungen sind oft durch episodischen Schwindel gekennzeichnet, der von vegetativen Symptomen wie Übelkeit begleitet sein kann [14]. Im Gegensatz dazu resultiert zentraler Schwindel aus einer Störung der zentralen Verarbeitungszentren im Gehirn. Er kann durch zerebrovaskuläre Ereignisse, Tumoren, Entzündungen oder degenerative Erkrankungen verursacht werden. Zentraler Schwindel ist oft durch eine kontinuierliche Schwindelsymptomatik ohne klare Auslöser und häufig in Kombination mit anderen neurologischen Symptomen wie Ataxie oder Doppelbildern charakterisiert. Er ist auf eine Pathologie im Gehirn zurückzuführen, insbesondere im Bereich des Hirnstamms oder Kleinhirns.
Ferner gibt es den nicht-vestibulären Schwindel, der nicht auf einer Fehlfunktion des vestibulären Systems beruht. Dazu zählen auch somatosensorische und psychogene Formen [15], allerdings sind Nomenklatur und Kategorisierung hier weit von einem Standard entfernt.
Klinische Evaluation und Diagnostik
Anamnese: Schlüsselfragen und wichtige Informationen
Die Diagnose von Schwindel erfordert eine sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung. Primär sollten die Patienten den Schwindel mit eigenen Worten beschreiben, gezieltes Nachfragen wird erst dann empfohlen, wenn die spontane Beschreibung unergiebig ist [16]. Die Anamnese sollte Informationen über die Art und Dauer des Schwindels umfassen. Man unterscheidet Drehschwindel (wie Karussell fahren) von Schwankschwindel (wie Boot fahren) und Benommenheitsschwindel. Schwindelattacken können Sekunden bis Minuten oder Stunden anhalten, Dauerschwindel für Tage bis wenige Wochen. Zusätzlich sollten die auslösenden Faktoren erfragt werden: Tritt der Schwindel bereits in Ruhe auf, wird er beim Gehen bemerkt oder durch Kopfdrehungen nach rechts oder links ausgelöst? Auch Begleitsymptome wie Hörverlust, Tinnitus, Übelkeit, Erbrechen und neurologische Symptome sollten immer erfragt werden (Tab. 1) [17] . Ziel der Anamnese ist es, eine Arbeitshypothese für die weiteren diagnostischen Schritte zu erstellen.
Art des Schwindels
- Dreh-, Liftschwindel? Richtungskonstante Lateropulsion? -> wahrscheinlich periphervestibuläre Störung
- Schwankschwindel? Richtungswechselnde Lateropulsion? Taumeligkeit und allgemeine Unsicherheit? -> wahrscheinlich zentral-vestibuläre oder multimodale Störung
Zeitliche Charakteristik
- kurz, attackenhaft oder dauerhaft? -> BPLS vs. chronischer Schwindel im Alter Auslösefaktoren
- Schwindelattacken durch Lageveränderung des Kopfes: z. B. durch Kopfdrehen -> BPLS
- Angst- / Stress -> psychogener Schwindel
- Schwindel nur beim Gehen -> Polyneuropathie, Spinalkanalstenose, bilaterale Vestibulopathie
Auslösefaktoren
- Schwindelattacken durch Lageveränderung des Kopfes: z. B. durch Kopfdrehen -> BPLS
- Angst- / Stress -> psychogener Schwindel
- Schwindel nur beim Gehen -> Polyneuropathie, Spinalkanalstenose, bilaterale Vestibulopathie
Begleitsymptome
- Hörminderung, Tinnitus und / oder starke vegetative Reaktionen (Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbrüche)? -> wahrscheinlich peripher-vestibulärer Schwindel
- neurologische Ausfälle (z. B. Hirnnervenausfälle, Doppelbilder, Ataxie, zentrale Augenbewegungsstörungen) -> zentral-vestibulärer Schwindel
- Kopfschmerzen? -> zentrale Störung (Schlaganfall, Migräne, selten Tumor)
- Schwarzwerden vor Augen, Bewusstseinsverlust? -> nicht-vestibulärer Schwindel (z. B. Synkopen)
Tab/Liste 1: Kernpunkte der Anamnese bei Schwindel [11, 17].
Körperliche Untersuchung und neurologische Bewertung
Die körperliche Untersuchung umfasst die Beurteilung des Gleichgewichts, der Augenbewegungen und des Gehörs. Dazu gehören spezifische Tests wie die Frenzel-Brille zur Beurteilung von
Tutorielle Unterstützung
Die tutorielle Unterstützung der Fortbildungsteilnehmer erfolgt durch unseren ärztlichen Leiter Dr. med. Alexander Voigt in Zusammenarbeit mit der arztCME-Redaktion. Inhaltliche Fragen können über das Kommentarfeld, direkt per Mail an service@arztcme.de oder via Telefon unter Tel.: +49(0)180-3000759 gestellt werden. Inhaltliche Fragen werden von unserem ärztlichen Leiter bzw. nach Rücksprache mit diesem und evtl. dem Autor auch von der arztCME-Redaktion beantwortet.
Technischer Support
Der technische Support der arztCME-Online-Akademie erfolgt durch geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Betreibers health&media GmbH unter der E-Mail-Adresse technik@arztcme.de oder via Telefon unter Tel.: 49(0)180-3000759.