Die kardiovaskuläre Funktionsdiagnostik entwickelt sich zunehmend in Richtung hochauflösender, dynamischer und patientenspezifischer Verfahren. Wir haben uns eine spannende Anwendung auf dem Jahreskongress der deutschen Hochdruckliga angeschaut.
Letzte Woche fand der Jahreskongress der Deutschen Hochdruckliga in Heidelberg statt. Unter dem Motto „Hypertonie – mittendrin!“ ging es natürlich um die vielen Effekte der Hypertonie, aber auch um die besonderen Herausforderungen und Chancen der Diagnostik im Gesamtumfeld des kardiovaskulären Managements. Neben klassischen Parametern wie Blutdruck, Ejektionsfraktion oder Gefäßstenosegrad rücken hier zunehmend funktionelle Größen wie arterielle Wandsteifigkeit, hämodynamische Belastung und kardiale Leistungsreserve in den Fokus.
Durch Fortschritte in künstlicher Intelligenz (KI), Modellierungstechnik und sensorbasierter Datenerfassung entstehen neue diagnostische Werkzeuge, insbesondere der sogenannte kardiovaskuläre Zwilling als digitale Repräsentation des individuellen Herz-Kreislauf-Systems. Der digitale Zwilling beschreibt ein virtuelles, simulationsfähiges Modell eines realen Systems – wir haben auch hier im Blog schon verschiedentlich darüber berichtet. In der Kardiologie werden dazu Daten aus Bildgebung, Hämodynamik, klinischen Parametern und zunehmend auch Wearables integriert, um ein holistisches Modell des Herz-Gefäß-Systems zu erzeugen.
Multimodale KI-Modelle ermöglichen dabei eine zunehmend präzise Rekonstruktion funktioneller Parameter, die traditionell nur invasiv zugänglich waren (z. B. diastolischer Füllungsdruck). Auf der Industrieausstellung hatten wir die Gelegenheit, das KI-Basierte Modell Vasioscore (Link) auszuprobieren.
Die Messung erfolgt mittels 6 oszillometrischer Manschetten an Armen und Beinen. Man wird also zunächst einmal verkabelt, die Manschetten werden dann rund 12 Minuten lang in wehcselnder Zusammensetzung aufgeblasen. Aus den so erfassten Pulswellenformen lassen sich zentrale hämodynamische Parameter ableiten, darunter:
- arterielle Wandsteifigkeit
- charakteristische Impedanz und Flusswiderstände
- aortale Druck- und Flussverhältnisse
- Interaktionen zwischen Herzleistung und peripherer Nachlast
Ein mehrseitiger Bericht gibt anschließend Auskunft über Blutdruck und zentrale kardiologische Ergebnisse wie Arrhythmien, Herzinsuffizienz-Score und eine Bewertung der Arterieneigenschaften. Diese werden gegen den alterskorrigierten Durchschnitt gematcht und erlauben so einen guten Überblick zum kardiovaskulären Status der gemessenen Person.
Dieser Ansatz zeigt, dass die klinische Anwendung nicht mehr futuristisch, sondern zunehmend realistisch ist. Die nächsten Schritte bestehen in Validierung, Standardisierung und Integration in die Patientenversorgung. Mittelfristig ist zu erwarten, dass digitale kardiovaskuläre Zwillinge eine zentrale Rolle in der präzisionsmedizinischen Kardiologie einnehmen können.
Text: Reinhard Merz
Bild: privat
