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Internetnutzungsstörungen

26. Mai 2025

Die S1-Leitlinie gibt erstmals strukturierte Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen – jenseits von Gaming- und Glücksspielsucht

Die digitale Welt ist längst kein optionales Add-on unseres Alltags mehr – sie ist integraler Bestandteil von Kommunikation, Freizeit, Beruf und Bildung. Doch während sich viele souverän in ihr bewegen, geraten andere in eine Dynamik exzessiver Nutzung, die zunehmend Kontrolle, Gesundheit und Lebensqualität untergräbt. Die nun veröffentlichte S1-Leitlinie „Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen“ reagiert auf diese Entwicklung mit bemerkenswerter Präzision und Aktualität. Herausgegeben unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Hans-Jürgen Rumpf (Universität Lübeck) und koordiniert durch die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V., bietet sie einen dringend benötigten Orientierungsrahmen für Fachkräfte in Therapie, Medizin, Prävention und Pädagogik – und setzt zugleich ein deutliches Signal an Politik und Gesellschaft.

Erstmals gelingt es, verschiedene Formen problematischer Internetnutzung systematisch zu differenzieren und ihnen jeweils eigene diagnostische und therapeutische Zugänge zuzuordnen. Dabei wird nicht nur auf die bekanntere Computerspielstörung Bezug genommen – die mit der Aufnahme in den ICD-11 bereits internationale Anerkennung erfahren hat –, sondern auch auf Nutzungsformen wie soziale Netzwerke, Online-Shopping oder Pornografie, deren pathologische Potenziale zunehmend in Studien belegt sind. Die Leitlinie argumentiert nicht moralisierend, sondern verhaltensmedizinisch und evidenzbasiert: Es gehe nicht um Technikfeindlichkeit, sondern um die Differenzierung zwischen Gebrauch, problematischem Gebrauch und Suchtverhalten.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der diagnostische Teil der Leitlinie. Hier werden standardisierte Verfahren vorgestellt, mit denen spezifische Ausprägungen der Internetnutzungsstörung erfasst werden können – sowohl im Erstscreening als auch in der vertiefenden Diagnostik. Instrumente wie der CIUS oder der IGDS9-SF erlauben eine differenzierte Erhebung von Symptomen, während strukturierte Interviews wie das AICA-SKI:IBS oder das I-CAT die klinische Einschätzung fundieren. Die Empfehlungen orientieren sich dabei klar an wissenschaftlichen Gütekriterien, aber auch an der praktischen Anwendbarkeit in verschiedenen Versorgungskontexten.

Im therapeutischen Teil der Leitlinie wird die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als zentraler Behandlungsansatz benannt – mit spezifischen Modulen für die jeweiligen Störungsformen. Ergänzend werden weitere Interventionen wie Psychoedukation, Sportprogramme, achtsamkeitsbasierte Methoden, Gruppentherapie und bei bestimmten Gruppen auch medikamentöse Unterstützung diskutiert. Besonders hervorzuheben ist der integrative Zugang der Leitlinie: Anstatt eine monolithische Therapieform zu propagieren, wird eine modulare, an Symptomatik und Lebenskontext angepasste Vorgehensweise empfohlen. Das schließt auch die Einbindung digitaler Gesundheitsanwendungen ein – von Online-Programmen zur Verhaltenstherapie bis hin zu neuen Virtual-Reality-Anwendungen im Craving-Management.

Ein zukunftsweisender Aspekt ist die Betonung frühzeitiger Interventionen – gerade bei Jugendlichen, bei denen die Prävalenz von problematischer Internetnutzung besonders hoch ist. Hier setzt die Leitlinie auf systemische und schulische Konzepte, kombiniert mit Elternarbeit und sozialpädagogischer Begleitung. Die Autoren machen dabei deutlich, dass Prävention nicht mit Appellen funktionieren kann, sondern strukturelle Maßnahmen und altersgerechte Gesundheitsförderung braucht.

Die vollständige Leitlinie kann auf der Website der AWMF eingesehen werden: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/076-011

Text: Redaktion arztCME

Bild: ChatGPT, OpenAI, für arztCME

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